Foto:DLA Marbach
Brief von Franz Kafka an Milena Jesenská, September 1920
Als Hingabe beschreibt Rainer Maria Rilke in seinem Tagebuch die Arbeit des Dichters: »Wenn deine Seele aber ... Bewegung auch dort bemerkt, wo sie nicht im Drängen der Massen sich ausprägt, hat sie Raum und Macht, in jeder Stunde eine ureigene Handlung zu erkennen, in welcher ernste und ruhige Kräfte ohne Pose und Prunk gebende Gesten tun«. Die neu gestaltete Dauerausstellung zum 20. Jahrhundert im Literaturmuseum der Moderne folgt den Spuren der Literatur in den Urgrund des Archivs: »Die Seele«. Zur Ausstellungseröffnung am 7. Juni 2015 sprechen Kurt W. Forster, Gründungsdirektor des Getty Research Center, und Martin Roth, Generaldirektor des Viktoria and Albert Museum London, über die Dimensionen der Ausstellungszeit: »Weltzeit und Museumszeit: Wir kurz ist der Blick, und wie lang währt die Dauer?« Es moderieren Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, und Heike Gfrereis, Leiterin der Literaturmuseen, die auch die neue, von Diethard Keppler und Demirag Architekten gestaltete Dauerausstellung kuratiert hat.
Die Seele eines Archivs liegt in seinen Dingen. Mit 303 Exponaten, die aus über 1.400 Schriftsteller- und Gelehrtennachlässen mit rund 50 Millionen Blättern, Büchern und Gegenständen ausgewählt wurden, lädt die neue Ausstellung »Die Seele« ein, die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts von den Beständen des Deutschen Literaturarchivs aus zu entdecken. Alle Exponate sind Grenzgänger zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen den Dingen selbst und dem poetischen Raum, den sie eröffnen. Die Zeit ist dabei ständiger Begleiter des literarischen Schreibens – zwischen scheinbar unendlicher Ausdehnung und einem Wimpernschlag. Im Rhythmus findet der Schriftsteller und Kunstsammler Harry Graf Kessler die Formel, die das Ästhetische mit der Religion verbindet: »eine in Zahlen fassbare Eigenschaft der Zeitverhältnisse, nach der die Sinnesreize geordnet sind«. Die Philosophin Hannah Arendt stellt sich in ihren Denktagebüchern ganz außerhalb der Zeit: »Das alterslos denkende Ich: Für die Denkerfahrung gibt es keine Zeit«. Eine Zigarette dient dem Schriftsteller Bernward Vesper in seinem Roman Die Reise als Instrument zur Messung der Zeit. Alle ausgestellten Exponate werden chronologisch nach Jahren gezeigt und im begleitenden Katalog dokumentiert, in dem verschiedene Essays die Koordinaten der Literatur im Archiv vermessen. Die Zeichnung eines gepfählten Delinquenten, die Franz Kafka an Milena Jesenská schickte, kann dabei als verstörendes Sinnbild für ein ganzes zerrissenes Jahrhundert gelten; sie gehört zu den kleinen, aber epochalen Erscheinungen dieser Literaturgeschichte: »Die Seele«.
Für die neu gestaltete Dauerausstellung wurde eine App entwickelt, mit der Besucher Exponate erkunden, Dinge ins Archiv zurückverfolgen oder sich Geschichten erzählen lassen können. Die App löst den bisherigen Museumsführer M3 ab.