Der Ausstieg von Sängerin Nyves 2019 mitten in der Tourphase zum bemerkenswerten Debüt "Aspire" (2018) traf Stuttgarts Modern-Metal-Aushängeschild denkbar schwer. Weil niemand den Glauben an diese Band aufgeben wollte, diese Band, die nach Jahren des Findens und Wachsens erstmals ihr Potential durchschimmern ließ, machte man weiter, suchte – und fand Ersatz am wohl unwahrscheinlichsten Ort, den man sich vorstellen kann: Bei einem Steel-Panther-Konzert.
Venues-Gitarrist Constantin Ranis ist anwesend, als plötzlich eine junge Frau namens Lela auf die Bühne steigt und eine Nummer mit den Schwerenötern singt. Als hätte sie nie etwas anderes getan! Er zeichnet den Auftritt begeistert auf, die beiden treffen sich nach der Show. „Eigentlich habe ich ihm nur meine Nummer gegeben, damit er mir das Video von meinem Auftritt schicken kann“, erinnert sich Lela an eine Begegnung mit Folgen. Das Video bekam sie – und ganz nebenbei wurde sie Sängerin bei einer von Deutschlands größten Modern-Metal-Hoffnungen. „Das war schon reichlich abgefahren“, lacht sie.
Vor der Dämmerung ist es eben immer am dunkelsten. Mastermind Robin Baumann zeigt sich entsprechend geplättet von so viel Zufall, Schicksal, Glück oder was-auch-immer. „Wir merkten sofort, schon bei unserer allerersten gemeinsamen Probe, dass das mit uns perfekt passt.“ Er atmet erleichtert aus: „Für uns ist Lela ein klares Upgrade.“ Seit 2014 gibt Robin mit Venues alles, die Band ist sein Baby, sein ganzer Stolz, sein Lebenstraum. „Und unsere jetzige Besetzung gibt mir das erste Mal das Gefühl, dass alles passt. Wir brennen alle für dieselbe Sache, ziehen am selben Strang, wollen dasselbe und geben alles für die Band. Das hat lang gedauert, ist es aber aus heutiger Sicht so was von Wert gewesen.“
Was Robin meint, tönt aus jeder Note, jedem Riff, jedem Akkord von "Solace". Melodie und Härte, Metal und Alternative-Rock-Aroma, Zeitgeist und Authentizität, Refrains mit Widerhaken, sprudelnde Ideen: Auf ihrem zweiten Album erfüllen Venues jedes einzelne Versprechen, das sie mit "Aspire" gegeben haben. Der Sound ist dick und von internationalem Format, die Songs sitzen, die Refrains holen den Mond vom Himmel, das Wechselspiel aus Robins gesanglichen Furor und der puren, ungezügelten Blues-Power von Lela hebt die Musik auf eine vollkommen andere Stufe. "Aspire" war die Visitenkarte, die Venues die Türen öffnete. »Solace« ist der Durchmarsch bis zum Thronsaal der deutschen Szene. Mindestens. Und dreht die Regler in Sachen Härtegrad auf elfeinhalb. „Wir wollten einfach mehr Metal“, bringt es Robin lachend auf den Punkt. „"Aspire" hatte einige poppige Anklänge, das haben wir bewusst in die Gegenrichtung nachjustiert.“
Wie schon beim Debüt, begab sich die Band dafür in die vertrauensvollen Hände von Christoph Wieczorek (Annisokay), der Venues in seinem Studio in Halle eine metallene Legierung von erstaunlicher Präzision verpasste. Zwei Wochen verbrachten Venues im August 2020 gemeinsam im Studio, ein seltener Lichtblick im Coronajahr und ein Findungsprozess, an dessen Ende eine gestählte Wiedergeburt des Venues-Sounds steht, durchs Feuer gegangen, seiner Größe bewusst, voller Potential. „Wir alle haben 2020 stärker denn je gespürt, wie viel Halt uns die Band gibt“, so Robin. „Fast alle von uns hatten kleine bis mittelschwere Lebenskrisen seit dem letzten Album zu bewältigen, Beziehungen gingen in die Brüche, Dinge wurden beendet und angefangen. In diesen Zeiten war unser zweites Album für uns alle ein großes Licht, etwas, worauf wir uns freuen konnten. Die Musik hat unsere Köpfe über Wasser gehalten.“ Der Titel "Solace" ("Trost") erklärt sich da fast von selbst. Das Album er zählt von Schlachten, von dunkelsten Tagen – und wie man sich selbst wieder zurück ins Leben holt.
Der Schritt von "Aspire" zu "Solace" ist groß, aber nachvollziehbar. Venues sind endgültig zu einer Band geworden, zu einer verschworenen Einheit, komplettiert vom neuen Gitarristen Valentin und befeuert von Zeitgeist, Tatendrang und Tiefgang. „Unsere Musik hilft uns bei der Verarbeitung schwieriger und schmerzhafter Themen. Sie ist Trost für uns, gibt uns Kraft“, umreißt Lela. „Einfach nur Songs über irgendwas zu schreiben ist einfach nicht drin.“ Schöne Ausnahme: "Whydah Galley", der wahrscheinlich erste Modern-Metal-Piratensong der Welt.
Alle reden immer von Key Tracks. Venues liefern einfach zehn Gegenbeispiele. Jeder Song sitzt, der Druck steigt, noch intensiver und alles würde uns um die Ohren fliegen. Wuchtig und monumental geht es in "Rite Of Passage" zu, ein sehr persönlicher Song, in dem die Beziehung zum eigenen Vater aufgearbeitet wird. Dieser Refrain ist gemacht für Arenen, für tausende emporgereckte Fäuste. Die rasiermesserscharfe Härte von "Shifting Colours" geht runter bis auf die Knochen, heimlicher Favorit der Band ist das hymnische ‚Uncaged Birds‘, der erste Song, den die neue Konstellation aufnahm. Große Melodie, umwerfende Gesangsduelle, fiebrige Riffs und Blasen schlagende Energie – hier tritt ein Trademark-Sound hervor, an dem sich künftige Songs messen lassen müssen. Psst: An den vollkommen abgedrehten Videoclips, die Venues gedreht haben auch. Mehr wird nicht verraten.
Zehn Songs, zehn Exorzismen negativer Energie, zehn Lebensretter – bevor die letzten Töne des kämpferischen, zupackenden "Mountains" verklungen sind, weiß man: Das hier ist der neue Goldstandard in der Welt kontemporärer Metal-Kunst, ein Gesellenstück, das Venues in einer gerechten Welt im Stechschritt die Karrieretreppe hochmarschieren lassen wird. Später werden wir dann sagen können: Also, wir wussten ja immer, dass die mal so groß werden.