Rüdiger Widmann
Hier in der Region locken zahlreiche Schlösser und Burgen jedes Jahr viele Besucher an und viele Städte glänzen mit ihren historischen Innenstädten mit den schönen alten Fachwerkhäusern. Dass die alten Gebäude auch nach Jahrhunderten so gut dastehen, ist keine Laune der Natur – dahinter stecken sehr viel Sachverstand und harte Arbeit. Restauratoren wie der Tübinger Rüdiger Widmann kümmern sich um den Erhalt der alten Gemäuer. Damit auch unsere Kinder noch Spaß an der Geschichte haben.
In viele Stücke zerplatzt, lag der bemalte Deckenputz auf dem Fußboden des Renaissance-Schlosses Bläsiberg bei Tübingen. Er hatte sich über Nacht gelöst und war heruntergefallen. Dort wäre er wohl auch liegen geblieben und wäre weggekehrt worden, ein historisches Zeitzeugnis hätte das Zeitliche gesegnet. Es ist Menschen wie Rüdiger Widmann zu verdanken, dass es in dem Fall beim Konjunktiv geblieben ist. Der 53-jährige Tübinger ist Restaurator, bringt historische Bausubstanz wieder auf Vordermann und erhält sie somit für die nachfolgenden Generationen. Widmann setzte die einzelnen Stücke des Putzes wie ein Puzzle zusammen und brachte diese wieder an der Decke an. »Das war eine Herausforderung«, sagt er nicht ohne Stolz. So bleibt der rund 1560 errichtete Bläsiberg in seiner ganzen Schönheit den Nachfolgegenerationen erhalten. Was für andere einer Sensation gleichkommen mag, ist für Widmann Alltag. Es ist sein Job, Altes zu erhalten und neu aussehen zu lassen.
Schloss Lichtenstein besonders
ans Herz gewachsen
Die Einsatzorte Widmanns lesen sich wie ein historischer Reiseführer durch die Region. Tübingens Rathaus und die Alte Aula, Marienmirche Reutlingen und die Michelskirche in Kusterdingen, das Beginnenhaus und die Bleiche in Bad Urach. Doch auf ein Objekt ist der Restaurator besonders stolz: das Schloss Lichtenstein. Hier hat er in jahrelanger Arbeit praktisch alle Räume einmal restauriert, immer in der Winterpause, wenn keine Touristen da waren. »Schloss Lichtenstein ist mir sehr ans Herz gewachsen«, sagt er deshalb auch. Alle zwei bis drei Jahre fährt er wieder hin und bessert Kleinigkeiten aus, die durch die Besucherströme kaputt gehen.
Alles kein Problem, heute gibt es doch für jedes Problem eine moderne Lösung, möchte man meinen. Doch mitnichten. Für seine Arbeit macht Widmann eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit. Seine Zeitmaschinen sind Tapeten. Mit Kopflampe und Skalpell rückt er den alten Gemäuern zu Leibe. Die penible Untersuchung fordert zutage, was sich hinter den oft unscheinbaren Tapeten verbirgt. Originale Wandtäfelung, Durchgänge zu anderen Räumen, Farbreste – es klingt wie eine Schatzsuche, wenn Widmann seine Arbeit schildert. Hinter jeder Wandschicht könne sich etwas Neues, etwas Aufregendes, etwas Einmaliges befinden.
Arbeitstechniken aus der Vergangenheit
Sanft und behutsam muss man mit der alten Bausubstanz umgehen, sie braucht eine ganz besondere Zuwendung. Die modernste Technik ist keine große Hilfe. Vielmehr muss er auf Arbeitsweisen, die Jahrhunderte zurückliegen zu Rate ziehen und sich alte Techniken aneignen. Da ist Widmann ganz Autodidakt. »Man schaut sich die vorhandenen Werkspuren an, schlägt nochmal in der Literatur nach und dann legt man los«, erklärt er. Im Frauenkloster Pfullingen konnte er beispielsweise aufgrund von Spuren rekonstruieren, dass dort der Putz mit hölzernen Löffeln aufgetragen wurde, und nicht, wie heute üblich, mit einer Kelle. »Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Nonnen auf das angewiesen waren, was sie selbst hatten oder selbst herstellen konnten – und das waren eben hölzerne Löffel.«
Handwerker und Künstler
Zurzeit arbeitet der Tübinger an einer etwa 700 Jahre alten, krummen und schiefen Häuserzeile in Reutlingens Altstadt. Noch prüft er die Bausubstanz. Ob die Gebäude tatsächlich erhalten werden, ist noch nicht klar. Sollten sie aber restauriert werden, kommt zu Widmanns Werkzeug auch noch der Pinsel. Sind die baulichen Mängel behoben, verschönert der Restaurator die Räume mit originalgetreuen Schmuckelementen. Bei Form und Farbgebung orientiert er sich an den Mustern und Farbresten, die er bei seinen Sondierungen gefunden hat. »Ich bin eben zu gleichen Teilen Handwerker und Künstler«, sagt Widmann. Sollte sich der Eigentümer entschließen, das Gebäudeensemble restaurieren zu lassen, werden bis zur Fertigstellung etwa drei Jahre vergehen, vermutet Widmann. Aber dann wäre Reutlingens Innenstadt um ein historisches Kleinod reicher. Christoph Schwärzler